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Gruppenklagen: Revision der Zivilprozessordnung (ZPO) muss Grundlage für kollektiven Rechtsschutz schaffen

Zur Zeit steht eine Revision der Zivilprozessordnung (ZPO) zur Diskussion. Was so theoretisch, abstrakt und technisch klingt, hat viel mehr mit unserem Alltag zu tun, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Die ZPO gibt nämlich den Rahmen und die Regeln vor, unter welchen Bürger und Konsumenten ihre Rechte einklagen können. Das Hauptproblem mit der geltenden ZPO liegt darin, dass sie es dem Bürger kaum ermöglicht, seine Rechte vor Gericht einzuklagen. Die Zugangshürden sind zu hoch und insbesondere fehlt die Möglichkeit, dass sich Gruppen von Geschädigten auf einfache Art und Weise zusammenschliessen und gemeinsam klagen können.

In Fällen, in welchen zahlreiche Einzelpersonen einen in finanzieller Hinsicht verhältnismässig geringen Schaden erleiden (z.B. wenn ein Anbieter von seiner Kundschaft über Jahre hinweg unerlaubterweise Kreditkartengebühren eingefordert hat), verzichtet die überwiegende Zahl der Betroffenen wegen dem unverhältnismässig grossen Aufwand darauf, gegen das fragliche Unternehmen vorzugehen.

In Fällen, in denen Betroffene erhebliche Schäden erlitten haben, scheitert ein rechtliches Vorgehen vielfach an dem zu grossen finanziellen Prozessrisiko. Steht den Geschädigten ein international tätiges Unternehmen gegenüber, könnte die bei einer Niederlage anfallende Parteientschädigung zu einer untragbaren Last werden. Auch die Beweisführung gegen eine Armada von Unternehmensanwälten stellt sich oft als zu schwierig heraus.

Die Schweizer Zivilprozessordnung braucht daher endlich eine Grundlage für kollektiven Rechtsschutz:

  • Betroffene müssen sich leichter zu Gruppen von Klägern zusammenschliessen können. Ein derartiger Zusammenschluss darf nicht an administrativen Hindernissen scheitern.
  • Die Anforderungen an die Beweisführung in typischen Fällen von kollektivem Rechtsschutz müssen weniger streng ausgestaltet werden. Der Schaden und das Verschulden des Schädigers manifestieren sich schliesslich bereits im Vorhandensein einer Vielzahl gleichgelagerter Schadensfälle.
  • Klageverfahren dürfen nicht an einer fehlenden Finanzierung scheitern. Punktuell muss eine massive Senkung der Gerichtskosten möglich sein.

Die Durchsetzung des Rechts darf nicht weiter bloss in der Theorie möglich sein – sie muss auch tatsächlich stattfinden. Unrechtes Handeln darf sich für Unternehmen nicht mehr lohnen.

Beispiele für die dringende Notwendigkeit von kollektivem Rechtsschutz

  • Depakine: Im Frühjahr 2017 wird bekannt, dass Kinder von Frauen, die während der Schwangerschaft das Epilepsiemittel Depakine einnahmen, mit Behinderungen zur Welt kommen. Bis Ende 2019 waren bei Swissmedic 39 Kinder gemeldet, davon 18 mit geistigen Entwicklungsstörungen. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Das Risiko war offenbar seit Jahren bekannt. Die betroffenen Familien müssen nun möglichst einfach und unbürokratisch zu einer angemessenen Entschädigung kommen. Allerdings kann es nicht sein, dass in derartigen Fällen immer wieder der Staat gefordert ist und einen Opfer-Fonds einrichten muss. Die Schuldigen müssen in einem Sammelklageverfahren direkt zur Verantwortung gezogen werden können.
  • Telekommunikation: Die Fälle häufen sich, in denen das Festnetz der Swisscom ausfällt. Die Störung vom 17.01.2020 dauerte knapp 1.5 Stunden. Swisscom-Festnetzkunden waren während dieser Dauer komplett vom Internet- und Telefonnetz abgeschnitten. Gerade bei Einmann/frau-Unternehmen sowie KMU können derartige Netzunterbrüche zu beträchtlichen finanziellen Einbussen führen. Der letzte Komplettausfall des Swisscomnetzes gab es im Übrigen in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 2020 – die Nacht des Superbowls.
  • Krankenkassen: Im Mai 2019 erging ein Urteil des Bundesgerichts gegen die Krankenkasse Assura. Diese hatte über Jahre hinweg eine falsche Berechnungsmethode für Spitalbeiträge verwendet und so den Patienten unrechtmässig Kosten überwälzt. Nach Abklärungen des Konsumentenschutzes stellte sicher heraus, dass zahlreiche weitere Krankenkassen dieselbe falsche Berechnungsmethode angewandt hatten. Da die Versicherungen den betroffenen Versicherten die geschuldeten Beträge kaum freiwillig zurückerstatten werden und auch das Bundesamt für Gesundheit sich kaum wesentlich dafür einsetzen wird, braucht es einen einfachen Rechtsweg, auf welchem die Betroffenen gemeinsam die Rückerstattung erstreiten können.
  • Kartelle: Immer wieder kommen kartellrechtlich verbotene Absprachen und Zusammenarbeiten unter Unternehmen ans Licht. So haben z.B. acht Leasingunternehmen während mehreren Jahren rechtswidrige Absprachen untereinander getroffen. Durch diese Preisabsprachen wurden Konsumenten erwiesenermassen kartellrechtswidrig finanziell geschädigt. Die Weko hat gegen sieben der Unternehmen eine ihrer höchsten Bussen seit Bestehen ausgesprochen – 30 Mio. Franken. Das Geld geht aber an den Staat, nicht an die Direktgeschädigten. In einem derartigen Fall reicht es nicht aus, wenn die schuldigen Unternehmen mit einer Busse belegt werden, deren Höhe für die Unternehmen keinerlei spürbare bzw. disziplinierende Auswirkungen hat. Die geschädigten Kunden müssen die Möglichkeit haben, sich einem effizienten, kostengünstigen Verfahren anzuschliessen, um die von ihnen zu viel bezahlten Leasingraten zurückzuerhalten. Grosse Wellen geworfen hatte auch das Bündner Baukartell. Bauunternehmer praktizierten zwischen 2004 und 2012 Preisabsprachen. Erste Meldungen dazu gab es dank einem Whistleblower im Jahr 2013. Auch hier sind vermutlich mehrfache Millionenbeträge zu Unrecht an die Baubranche geflossen. Die zu viel bezahlten Beträge müssen von Unternehmensseite wieder an die betroffenen Privaten (und öffentlichen Bauherren) zurückfliessen.

Argumente der Industrie

Die Industrie wehrt sich gegen jede Art von Forderungen von Nutzerseite her. Insbesondere die kollektive Rechtsdurchsetzung, z.B. in Form von Gruppenklagen, wird mit nicht weiter begründeten Argumenten abgetan:

  • Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes sind dem Schweizer Rechtssystem fremd. Sie passen somit nicht in unsere Rechtskultur bzw. Rechtsdurchsetzungskultur.

Beurteilung: Es sollte vielmehr nicht in unsere Rechtskultur passen, dass Betroffene wegen zu hohen finanziellen und beweistechnischen Hürden ihre Ansprüche nicht durchsetzen können. Die Schweiz ist weltweit berühmt für ihr funktionierendes Vereins- und Verbandswesen. Daher passt die gewählte Form (Verbandsklage, die nur durch nicht-gewinnorientierte Organisationen eingereicht werden kann) für die gerichtliche Erledigung von Massen- und Streuschäden ausgezeichnet in unsere Rechtsordnung.

  • Klagewellen wegen gierigen Anwälten: Es drohen amerikanische Verhältnisse – Anwälte, die sich eine goldene Nase verdienen wollen, werden massenweise prozessieren, da sie dank den erfolgsabhängigen Honoraren grosses Geld verdienen können.

Beurteilung: In der Schweiz werden Anwälte bereits heute teilweise erfolgsabhängig entschädigt. Jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen. So muss z.B. der erfolgsunabhängige Teil des Honorars grösser sein als der erfolgsabhängige Teil. Dem Beklagten können keine Strafzahlungen auferlegt werden, die über die tatsächliche Schadenssumme hinausgehen (keine sog. punitive damages). An diesen Regeln soll sich auch mit der Einführung von Gruppenklagemöglichkeiten nichts ändern. Denn auch aus Sicht des Konsumentenschutzes sind amerikanische Verhältnisse in jedem Fall zu vermeiden.

  • Klagewellen wegen niedrigen Handlungsschwellen: Mit der Möglichkeit, gemeinsam zu klagen, sinken die Gerichtszugangshürden erheblich. Auch aus diesem Grund ist mit Klagewellen zu rechnen.

Beurteilung: Die klagende Organisation, die eine Verbandsklage einreicht, muss ein Klageverfahren aus eigener Kraft finanzieren können – mit Klagewellen ist deshalb nicht zu rechnen. Zudem soll keine Person – im Unterschied etwa zu dem amerikanischen Klagemodell – automatisch an einem Klageverfahren teilnehmen. Wer an einem Verfahren teilnehmen möchte, muss sich selber darum bemühen (Opt-in-Verfahren).

Kollektive Rechtsdurchsetzung in der EU

In der EU hat das Thema der kollektiven Rechtsdurchsetzung Fahrt aufgenommen. Die EU-Kommission hatte 2019 einen Vorschlag für eine Richtlinie „über Verbandsklagen zum Schutz von Kollektivinteressen der Verbraucher“ vorgeschlagen. Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten, entsprechende Rechtsbehelfe einzuführen. Als nächstes beraten EU-Parlament und EU-Ministerrat über die Vorlage.

Weitere Punkte der ZPO-Revision

Die aktuell zu hohen Kostenhürden führen insgesamt dazu, dass nur ein Bruchteil der betroffenen Bürger und Konsumenten den Gang vor den Richter wagen, um z.B. eine Unterlassung oder eine Schadenersatzzahlung zu fordern. Mit der ZPO-Revision soll dieser Missstand zumindest teilweise beseitigt werden.

  • Senkung der Kostenhürden («Gerichtszugangskosten»): Gemäss Revisionsvorlage soll der Kläger nur noch maximal die Hälfte der vom Gericht vermuteten Gerichtskosten als Vorschuss leisten müssen. Dies ist zwar eine begrüssenswerte Änderung, sie packt das Problem aber nicht an der Wurzel. Eine echte Senkung der Kostenhürde wäre dann erreicht, wenn die Gerichtskosten grundsätzlich tiefer angesetzt würden.
  • Tragung des Insolvenzrisikos:  Bei zwischenzeitlicher Insolvenz der beklagten Partei soll die obsiegende Klägerin nicht mehr leer ausgehen. Die vorgeschossenen Gerichtskosten sollen ihr direkt vom Gericht zurückerstattet werden.