Trügerischer Selbstversorgungsgrad

Der Zusammenbruch der Getreide-Lieferketten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine zeigte auf, wie fragil unsere Lebensmittelversorgung ist. Die Diskussion um die Sicherung der Landesversorgung macht also absolut Sinn. Doch statt an einer weitsichtigen und zukunftsorientierten Versorgungsstrategie zu arbeiten, bemüht die Politik die historische Anbauschlacht und fordert repetitiv, dass der “Selbstversorgungsgrad” erhöht werden müsse – am liebsten durch mehr konventionellen Anbau und weniger Umweltschutz. Doch eigentlich ist der Selbstversorgungsgrad als Messwert für die Versorgungssicherheit des Landes völlig untauglich.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine brachen die Getreide-Lieferketten zusammen. Die Schweizer Importeure etablierten daraufhin in erstaunlich kurzer Zeit neue Lieferkanäle. Die Brot- und Mehlgestelle in den Schweizer Läden blieben immer gefüllt. Dennoch fuhr den Leuten wegen der kurzzeitigen Versorgungskrise der Schreck in die Glieder. Mit Ängsten lässt sich bekanntlich Politik machen. Und sofort wurde das Parlament mit Vorstössen bombardiert, die eine Erhöhung des Selbstversorgungsgrades forderten. Um das zu ermöglichen, sollten die Umweltstandards gesenkt und die konventionelle Produktion erhöht werden.
Was ist denn eigentlich der Selbstversorgungsgrad?
Der Selbstversorgungsgrad beschreibt, wie viel die Schweiz in normalen Zeiten selbst produziert. Aktuell beträgt der Wert knapp 60%. Doch die Lebensmittelproduktion in der Schweiz ist zu einem unglaublich hohen Mass von Waren und Vorleistungen aus dem Ausland abhängig. Wenn man alle importierten Futtermittel für Kühe, Hühner und Schweine in die Rechnung mit einbezieht, erhält man den sogenannten Netto-Selbstversorgungsgrad. Dieser beläuft sich momentan auf 49 %.
Die Liste der landwirtschaftlichen Waren und Vorleistungen aus dem Ausland ist allerdings noch sehr viel länger: Saatgut, Setzlinge, Dünger, Bodensubstrate, Jungtiere, Medikamente, Einstreumaterial, Melkmaschinen, Traktoren und den Diesel dafür – die Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen. Berücksichtigt man alle real importierten Vorleistungen, so fällt der Netto-Selbstversorgungsgrad ins Bodenlose.
Als Kennzahl, die beschreibt, in welchem Ausmass sich die Schweiz in einer Krise autark ernähren kann, eignet sich der Selbstversorgungsgrad deshalb nicht.
“Der Netto-Selbstversorgungsgrad wäre praktisch null”
Sollte der Handel in einem Krisenfall tatsächlich komplett zusammenbrechen, hätte die Schweizer Lebensmittelproduktion ein massives Problem. Wie gross die Auslandsabhängigkeit tatsächlich ist, zeigt die Auskunft des Bundesrates auf eine Interpellation von Konsumentenschutz-Präsidentin Nadine Masshardt: Weizensaatgut beispielsweise ist zu 93 % importiert, die Jungtiere für die Geflügelmast, Saatgut für Raps, Sonnenblumen und Zuckerrüben sowie fossile Energieträger werden zu 100% aus dem Ausland eingeführt.
Die Frage nach der eigentlichen Höhe des Selbstversorgungsgrades quittiert der Bundesrat mit erstaunlicher Offenheit: «Der Nettoselbstversorgungsgrad wäre praktisch null, wenn alle Güter, die für die landwirtschaftliche Produktion benötigt werden, in die Berechnung einbezogen würden. Ein solcher Nettoselbstversorgungsgrad lässt sich jedoch nicht quantifizieren, da es keine detaillierte Statistik über die Herkunft der Vorleistungen für die einzelnen Kulturen gibt»
Ressourcenschutz und gutnachbarliche Handelsbeziehungen
Mit “Selbstversorgungsgrad” muss uns nun also niemand mehr kommen. Der Begriff wiegt die Menschen in falscher Sicherheit. Seine Verwendung im Kontext der Versorgungsautarkie ist verantwortungslos, wenn die massive Auslandsabhängigkeit der Schweiz nicht thematisiert wird.
Richtig ist: Die Schweiz sichert ihre Lebensmittelversorgung am besten, indem sie möglichst viele Nahrungsmittel im eigenen Land produziert. Langfristig ist dies aber nur möglich, wenn sie dafür ihre natürlichen Ressourcen nicht schützt: die landwirtschaftlichen Böden, die Gewässer und die Biodiversität. Unsere Abhängigkeit von landwirtschaftlichen Vorleistungen aus dem Ausland ist und bleibt dabei aber eine Tatsache und darf nicht ausgeblendet werden. Eine verantwortungsvolle Versorgungspolitik beinhaltet deshalb auch die Pflege einer vertrauensvollen und offenen Handelspolitik mit unseren Nachbarländern.