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Tür und Tor wieder offen für lästige Werbeanrufe

Anfang September änderten die beiden grossen Krankenkassenverbände überraschend die Branchenvereinbarung Vermittler (BVV) ab, welche die Vermittlertätigkeit regelt. Die Branche gibt sich selber grosse Freiheiten und nutzt damit die Tatsache aus, dass die Regulierung der Vermittlertätigkeit vom Parlament vollumfänglich ihr überlassen wurde. Einerseits können neu überhöhte Provisionen für Krankenzusatzversicherungen ausbezahlt werden. Andererseits können die Versicherten mit Werbeanrufen belästigt werden, ohne dass die Versicherungen Sanktionen zu befürchten haben. Konsumentenschutz-Präsidentin Nadine Masshardt verlangt in einem Vorstoss eine wirksame Regulierung.

Der Zeitpunkt der Abänderung der Branchenvereinbarung ist nicht zufällig. Kurz vor der Bekanntgabe der Krankenkassenprämien-Aufschläge war den Versicherungen klar, dass das Vermittlergeschäft mit der Abwerbung der Versicherten und, damit einhergehend, dem Verkauf von Krankenkassen-Zusatzversicherungsprodukten im Herbst auf Hochtouren laufen würde.

Weg frei für hohe Provisionen und lästige Werbeanrufe

Die Krankenkassen versuchen, junge, gesunde Versicherte abzuwerben und ihnen Zusatzversicherungen zu verkaufen. Mit der Änderung der Vereinbarung wurde das noch einfacher und lukrativer gemacht. Die beiden Kassenverbände Santésuisse und Curafutura schafften kurzerhand die Obergrenze für Entschädigungen ab, welche bei der Vermittlung von Krankenzusatzversicherungen bezahlt werden. Damit steht der Weg offen für überhöhte Provisionen, die sich negativ auf die Krankenkassenprämien auswirken.

Der Aufsichtskommission die Zähne gezogen

Ebenfalls abgeschafft wurde die Aufsichtskommission, die bei Verstössen gegen die Vereinbarung Sanktionen aussprechen konnte. Die Versicherer verpflichten sich zwar nach wie vor dazu, auf telefonische Kaltakquise – also Konsumenten ohne deren Einwilligung anzurufen – zu verzichten. Tun sie es trotzdem, müssen sie jedoch zumindest bis Ende dieses Jahres keine Sanktionen befürchten. Wie es weitergeht, ist ungewiss, da die Regelung der Versicherungsvermittlertätigkeit auf einem wenig überzeugenden Konstrukt aus Gesetz, Verordnung und freiwilliger Branchenvereinbarung beruht.

Entwicklung zeigt: Regulierung ist nötig

Seit Jahren fordert der Konsumentenschutz, dass der Schutz der Versicherten nicht vom Willen der grossen Player im Krankenversicherungsgeschäft abhängen darf. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, wie prekär die Lage tatsächlich ist.

Nationalrätin und Konsumentenschutz-Präsidentin Nadine Masshardt hat in der ersten Woche der Herbstsession bereits eine Frage an den Bundesrat gestellt und reichte am 28.09.2023 eine Motion ein, mit der sie folgende konkreten Forderungen stellt:

  • Verbot der Kaltakquise
  • Maximal 50 Franken Provision im Bereich Grundversicherung
  • Maximal 6 Monatsprämien Provision im Bereich Zusatzversicherung
  • Einführung einer unabhängigen Meldestelle bei Verdacht auf Regelverletzung

 

Hintergrundinformationen

Das Bundesgesetz über die Regulierung der Versicherungsvermittlertätigkeit wird voraussichtlich per 01.01.2024 in Kraft gesetzt. Damit erhält der Bundesrat die Kompetenz, auf Gesuch der Versicherer gewisse Punkte der Branchenvereinbarung in einer Verordnung für verbindlich zu erklären. Es gibt keine gesetzliche Grundlage dafür, dass das BAG und die FINMA im Rahmen eines allfälligen Allgemeinverbindlichkeitsverfahrens Korrekturen vornehmen können.

Gesetzgebungsprozess betreffend Allgemeinverbindlicherklärung bereits im Gang

Die zuständigen Departemente haben den Gesetzgebungsprozess betreffend Verordnung über die Versicherungsvermittlertätigkeit eingeleitet, bevor das obgenannte Bundesgesetz in Kraft trat und bevor ein formelles Gesuch um «Allgemeinverbindlicherklärung» vorlag. Dies geschah mit dem Ziel, die Verordnung möglichst rasch in Kraft zu setzen und somit Teile der Branchenvereinbarung möglichst rasch für allgemeinverbindlich zu erklären.

Offenbar ging man in den zuständigen Departementen davon aus, dass unmittelbar nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Regulierung der Versicherungsvermittlertätigkeit ein Gesuch um «Allgemeinverbindlicherklärung» der Branchenvereinbarung vom 01.01.2021 gestellt werden wird. Die Departemente haben den Gesetzgebungsprozess nämlich auf die Branchenvereinbarung vom 01.01.2021 gestützt. Die Vernehmlassungsfrist endete am 08.08.2023.

Per 01.09.2023 wurde die Branchenvereinbarung jedoch kurzfristig geändert. Insbesondere die Beschränkung der Entschädigung bei Produkten nach VVG auf maximal 12 Monatsprämien pro abgeschlossenem Produkt sollte gemäss Verordnungsentwurf für allgemeinverbindlich erklärt werden. Eine solche Beschränkung findet sich in der neuen Branchenvereinbarung jedoch nicht mehr. Es wird sich zeigen, wie die zuständigen Departemente damit umgehen werden und ob es ein neues Vernehmlassungsverfahren geben wird.

Branchenvereinbarung in zwei Punkten wesentlich angepasst

Wie erwähnt wurde die Branchenvereinbarung vom 01.01.2021 per 01.09.2023 kurzfristig angepasst. Im Wesentlichen wurden zwei Änderungen vorgenommen. Während die Provisionen für Krankenzusatzversicherungen in der «alten» BVV auf 12 Monatsprämien beschränkt wurden, gilt in der BVV 2.0 keine Beschränkung mehr. Zudem wurde die Aufsichtskommission kurzerhand abgeschafft. An deren Stelle tritt eine Meldestelle, die Meldungen entgegennimmt, jedoch keine Sanktionen verhängen kann.

Versicherer haben bis auf weiteres keine Sanktionen zu befürchten

Mit der kurzfristigen Abänderung der Branchenvereinbarung haben sich die Versicherer kurzerhand einen «rechtsfreien» Zeitraum von mindestens einigen Monaten geschaffen. Damit nutzte die Branche die Tatsache aus, dass das Parlament die Regulierung der Vermittlertätigkeit vollumfänglich ihr überlassen hat. Die Versicherer haben im richtigen Zeitpunkt – die Bekanntgabe der Krankenkassenprämien stand kurz bevor – die Möglichkeit von unbegrenzten Provisionen im Krankenzusatzversicherungsgeschäft geschaffen. Überdies wurde die Aufsichtsstelle abgeschafft und durch eine Meldestelle ohne Sanktionsbefugnis ersetzt. Ein Gesuch um Allgemeinverbindlicherklärung der Vereinbarung wurde (noch) nicht eingereicht und somit sind auch diesbezüglich keine Sanktionen möglich. Die Versicherer haben also für den Herbst weder im Krankenkassen- noch im Krankenzusatzversicherungsgeschäft Sanktionen zu befürchten.

Unerwünschte Werbeanrufe sowie überhöhte Provisionen befürchtet

Es ist davon auszugehen, dass es zu unzähligen unerwünschten Werbeanrufen kommt und überhöhte Provisionen für Krankenzusatzversicherungen ausbezahlt werden, die die Gesundheitskosten und somit die Krankenkassenprämien weiter in die Höhe treiben.

Regulierung der Vermittlertätigkeit vollumfänglich in den Händen der Versicherer

Die kurzfristige Anpassung der Branchenvereinbarung mit den unerwünschten Folgen hat gezeigt, wie fragil das Konstrukt von Regelungen in Gesetzen und Verordnungen betreffend Allgemeinverbindlicherklärung und der von den grossen Playern in der Versicherungsbranche abhängenden Branchenvereinbarung ist. Für den Fall, dass keine für allgemeinverbindlich erklärte Branchenvereinbarung vorliegt (weil es zum Beispiel keine oder nur eine materiell ungenügende Vereinbarung gibt), fehlen Regelungen gänzlich. Zudem können die Versicherer die Vereinbarung jederzeit beliebig abändern (die für allgemeinverbindlich erklärten Punkte mit einer Frist von 12 Monaten). Die Regulierung der Versicherungsvermittlertätigkeit liegt damit vollständig in der Macht und den Händen der Versicherer.

Schutz der Versicherten ist nicht gewährleistet

Dieses Konstrukt führt dazu, dass die Versicherten den Versicherungen ausgeliefert sind, die Krankenkassenprämien steigen und vermeidbarer Verwaltungsaufwand generiert wird. Der Schutz der Versicherten ist nicht gewährleistet. Damit der Schutz der Versicherten in Zukunft gewährleistet werden kann, muss die Versicherungsvermittlertätigkeit wirksam reguliert werden. Dem Bundesrat sind die Hände gebunden, da eine gesetzliche Grundlage fehlt. Nationalrätin und Konsumentenschutz-Präsidentin Nadine Masshardt reichte am 28.09.2023 eine Motion ein, die die Schaffung der entsprechenden gesetzlichen Grundlagen verlangt.