Kollektiver Rechtsschutz: Verbandsklage bei Massenschäden

In Sachen Grundrechte bestehen auch in der Schweiz teilweise erhebliche Mängel – so z.B. beim Zugang zur Gerichtsbarkeit. Wem in der Schweiz Unrecht widerfährt, kann die Angelegenheit nicht einfach vor ein Gericht bringen. Viel zu hoch ist das Kostenrisiko, viel zu schwer die Beweislast. Wenigstens bei Massenschäden sollte es möglich sein, den Richter anzurufen. Gemeinsam. Über eine Verbandsklage. Zur Zeit steht ein Gesetzesentwurf zur Diskussion, der dies auch hierzulande endlich ermöglichen soll. Die Industrie verbreitet Panik und Schreckensszenarien von masslosen Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild. Der Konsumentenschutz setzt sich vehement für die Umsetzung der Vorlage ein.
Der VW-Abgasskandal hat es gezeigt: In der Schweiz ist es schwierig, das Recht durchzusetzen. Sogar wenn tausende von Konsumentinnen und Konsumenten durch die gleiche Ursache einen Schaden erleiden. Sogar, wenn der Schädiger sein Verschulden zugegeben hat. Und auch wenn er weltweit bereits Entschädigungszahlungen geleistet hat, sei es freiwillig, sei im Rahmen von Sammelklagen. Mangels Alternativen konstruierte der Konsumentenschutz eine Art Verbandsklage. Die Gerichte kamen aber zum Schluss, dass diese Art von Klage im Schweizer Zivilprozessrecht nicht vorgesehen sei. Ein indirekter Aufruf an den Gesetzgeber, endlich die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.
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Kollektiver Rechtsschutz: Vorgeplänkel im Bundeshaus
Prisca Birrer-Heimo, die langjährige Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz, hatte bereits 2013 die ersten politischen Vorstösse eingereicht, die darauf abzielten, dass kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz möglich wird. In seinem Bericht aus dem Jahre 2013 bestätigte der Bundesrat, dass in Fällen von Massenschäden in der Schweiz eine erhebliche Rechtsschutzlücke besteht.
2018 legte der Bundesrat einen Vorentwurf zur Revision der Zivilprozessordnung vor. Darin enthalten ein umfassender Vorschlag für Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes. Die Industrie lief Sturm – mit dem Resultat, dass alle Bestimmungen zum kollektiven Rechtsschutz aus der Vorlage gestrichen wurden. Mit dem gleichzeitigen Versprechen der zuständigen Departementsvorsteherin, bald einen separaten Gesetzesentwurf zur Thematik vorzulegen.
Sie hielt Wort und legte Ende 2021 eine separate Gesetzesvorlage vor. Der Konsumentenschutz setzt alles daran, dass der Entwurf nicht wieder in der Schublade verschwindet.
Übrigens: Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Geschädigten bis 2023 Klageinstrumente zur Verfügung zu stellen, damit diese gemeinsam gerichtlich gegen die potentiellen Schädiger vorgehen können.
Ausgewogene Gesetzesvorlage mit Verbandsklage
Der Entwurf Verbandsklage und kollektiver Vergleich (21.082) bietet eine gute Grundlage für den gemeinsamen Gang vor Gericht. Insbesondere sieht er eine reparatorische Verbandsklage vor. Eine klagebefugte Organisation kann demnach im Namen von Betroffenen auf Schadenersatz klagen. Gleichzeitig ist sichergestellt, dass es zu keinen unkontrollierten Sammelklagen kommt. Denn die Klagehindernisse bleiben weiterhin gross:
- Die klagende Organisation muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen.
- Die Beweis- und Substantiierungspflicht bleibt unverändert hoch.
- Die Betroffenen müssen sich aktiv um eine Beteiligung bemühen (opt in anstatt opt out).
- Und – als wichtigste Gerichtszugangshürde – die zu erwartenden Gerichts- und Prozesskosten und somit das Kostenrisiko für die klagende Partei bleibt ebenfalls unverändert.
Trotz dieser nach wie vor enorm grossen Hindernisse für ein Klageverfahren setzt die Industrie wieder alles daran, auch diese gesonderten Vorlage zu verhindern.
Das Schreckgespenst Sammelklage
Es werden Argumente bemüht, denen jegliche Grundlage fehlt. Zuoberst steht die Angstfantasie, dass amerikanische Verhältnisse mit unsinnigen Klageexzessen drohten. Dadurch werde die Schweizer Industrie geschwächt. Es wird ignoriert, dass sich die prozessrechtlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz fundamental von denjenigen in den USA unterscheiden und somit amerikanische Verhältnisse in der Schweiz schlicht nicht möglich sind. Zudem haben bereits zahlreiche europäische Staaten langjährige Erfahrungen mit Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes. Weder kam es zu einer Anhäufung von Klageverfahren (auch in den europäischen Staaten sind klagefugte Organisationen aus ressourcentechnischen Gründen nur sehr begrenzt klagefähig), noch kam es zu einem mit dem Rechtsschutz zusammenhängenden allgemeinen Kostenanstieg – ein Angstszenario, das von der Industrie ebenfalls oft und gerne bemüht wird.
Politischer Werdegang der Vorlage
- Entscheid Rechtskommission des Nationalrats für eine Regulierungsfolgenabschätzung, einen erweiterten Rechtsvergleich und weiteren Abklärungsaufträgen an die Verwaltung (24. Juni 2022)
- Anhörung vor der Rechtskommission des Nationalrats (Teilnahme Konsumentenschutz), Mai 2022
- Verbandsklage und kollektive Vergleiche, Entwurf und Botschaft (Dezember 2021)
- Stellungnahme der Stiftung für Konsumentenschutz (Juni 2018)
- Revision Zivilprozessordnung, Vorentwurf und Botschaft (März 2018)