Chemikalien: Politik und Wissenschaft nehmen das Problem nicht ernst

Die Chemikalienbelastung von Mensch und Umwelt nimmt rasch und unkontrolliert zu. Es braucht dringend mehr Forschung zu dieser Problematik. Der Bundesrat und der ETH-Rat zeigen jedoch wenig Willen, mehr für den Schutz der Konsument:innen zu unternehmen.
PFAS, BPA oder Phtalate: Menschen und Umwelt leiden schweiz- und weltweit immer stärker unter der Chemikalienbelastung. Diese gelangen über Verpackungen, Arzneimittel, Haushaltsgegenstände, Pflegeprodukte oder aus anderen Quellen in den Körper und reichern sich dort an. Das kann gravierende Konsequenzen haben: Sie können Krebs auslösen, Gene verändern oder die Fruchtbarkeit beeinflussen. Über die gesundheitlichen Folgen vieler dieser Chemikalien weiss man noch viel zu wenig oder nichts.
Offener Brief an den ETH-Rat
Der Konsumentenschutz hat deshalb dem ETH-Rat, dem strategische Führungs- und Aufsichtsorgan der bundeseigenen Hochschulen, einen offenen Brief geschrieben. Darin wird unter anderem gefordert, dass Wissenslücken geschlossen, mehr Forschung betrieben und ein systematisches Monitoring potentiell gefährlicher Stoffe installiert wird. Der ETH-Rat reagierte mit einem Antwortschreiben – und dieses ist enttäuschend.
Rechtfertigende Aufzählung
Zwar anerkennt der ETH-Rat, dass die grosse Anzahl von Chemikalien ein Problem ist und deshalb mehr Forschung zur Sicherheit und Gefährlichkeit von chemischen Stoffen betrieben werden sollte. Was der Rat aber über zwei Seiten ausführt, ist keine Auslegeordnung, wie man diese Forschung verbessern oder stärken kann. Es ist lediglich eine Aufführung von allen Forschungsgruppen der Hochschulen, die sich ansatzweise mit dem Thema «Chemikalien in der Umwelt» auseinandersetzen. Der Brief schliesst mit der Behauptung, dass die Institutionen «stark engagiert» seien. Eine «Intensivierung» sei aber immer auch von den «finanziellen Rahmenbedingungen» abhängig.
Ungenügende Antwort des ETH-Rates
Diese rechtfertigende Aufzählung ist einer so stolzen Gruppe von Forschungsinstitutionen nicht würdig. Zur Erinnerung: Aktuelle Studien zeigen die hohe Gefährlichkeit von Chemikalien. Und sie stellen fest, dass wir noch kaum etwas über deren Auswirkungen auf Menschen und Umwelt haben (siehe Kasten unten). Die Antwort auf diese höchst beunruhigenden Forschungsergebnisse von Seiten des «strategischen Führungsgremiums» des ETH-Bereich ist nicht, dass mehr geforscht werden sollte. Stattdessen findet das Gremium, dass der ETH-Bereich schon genug macht. Mit anderen Worten: Die grossen Wissenslücken über die Gefährlichkeit von vielen Chemikalienkümmert das Gremium kaum.
Auch Bund zieht sich aus der Verantwortung
Das Thema wurde von der Präsidentin des Konsumentenschutzes, Nadine Masshardt, auch in die Politik getragen. Sie wollte mittels einer Interpellation vom Bundesrat wissen, was er unternehmen will, um die Forschung zur Chemikaliensicherheit zu verstärken. Leider ist auch hier die Antwort dürftig: Zwar investiert der Bund insgesamt etwa 2,5 Millionen Franken pro Jahr in die Forschung des Swiss Centre for Applied Human Toxicology (SCAHT) oder finanziert einige internationale Forschungsgruppen mit Schweizer Beteiligung mit. Darüberhinausgehende Forschung wird jedoch nicht direkt unterstützt oder auf die lange Bank geschoben:
- Ein lange ersehntes Human Bio-Monitoring (gross angelegte Gesundheitsstudie über eine Kohorte), welche die Überwachung von Substanzen aus der Umwelt und die damit verbundenen Risiken für die menschliche Gesundheit einschliesst, ist seit acht Jahren in Planung. Ob und wie sie durchgeführt werden soll, soll dieses Jahr bekannt werden.
- Den Aufbau einer internationalen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik, dem Science Policy Panels (SPP), soll das BAFU «intern verrechnen». Für die Chemikalienforschung sollen also die Mittel an anderer Stelle gestrichen werden, etwa bei der Biodiversität oder dem Klimaschutz.
Forderungen des Konsumentenschutzes
Der Konsumentenschutz fordert die Hochschulen des ETH-Bereichs und den Bund auf, ihre Verantwortung gegenüber der Bevölkerung wahrzunehmen und die Erforschung von potenziell gefährlichen Chemikalien zu verstärken:
- ETH-Bereich:
- Entwicklung einer kohärenten Strategie für alle angebundenen Hochschulen;
- Den Erhalt bisheriger Forschung und weiteren Ausbau der Lehre;
- Den Aufbau mindestens eines Lehrstuhls, der auf das Thema Sicherheit von Chemikalien fokussiert.
- Bund:
- Aufstockung der Fördermittel für die ökotoxikologische Forschung;
- Umsetzung der Bio-Monitoring-Studie innerhalb der nächsten 5 Jahre;
- Zusätzliche Mittel für das BAFU um den Hauptsitz des SPP in Genf bereitzustellen
Der Blindflug der Chemikalienforschung
Aktuelle Studien zu Chemikalien in Verpackungen und Chemikalien in Menschen zeigen, dass immer mehr Chemikalien im Menschen nachgewiesen werden können. Sie belegen aber auch, dass sich die Effekte komplexer Mischungen sogar addieren können. Dabei sind die bisher bekannten Chemikalien offenbar nur die Spitze des Eisbergs: Etwa 16´000 verschiedene Chemikalien werden derzeit in Kunststoffen eingesetzt, wobei von mehr als 10´000 Stoffen die Auswirkungen noch völlig unbekannt sind. Die unzureichende Sicherheit im Umgang mit Chemikalien und die fehlende Forschung zu deren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt stellen daher ein dringendes und gesellschaftliches Problem dar. Jährlich kommen zahlreiche neue chemische Substanzen auf den Markt und verstärken das Problem und den Handlungsbedarf zusätzlich.