Nationalrat gegen Gruppenklage: Bleibt die Schweiz eine Insel ohne Rechtsschutz?

Der Nationalrat will die grosse Lücke im Schweizer Rechtssystem nicht schliessen. Er hat sich heute gegen die Möglichkeit einer Gruppenklage ausgesprochen. Das kann sich fatal auswirken. Der Skandal um die betrügerischen Machenschaften von VW hat gezeigt, dass die VW-Kund:innen weltweit eine Entschädigung erhalten haben – nicht aber in der Schweiz. Konsumentenschutz-Präsidentin Nadine Masshardt ist entsprechend enttäuscht über die Verweigerungshaltung der Mehrheit der grossen Kammer: “Der Zugang zum Recht ist zentral!” Masshardt fordert eine Korrektur vom Ständerat und somit ein “Ja” zur Möglichkeit von Gruppenklagen.
Die Mehrheit des Nationalrates will den Konsument:innen keinen freien Zugang zum Gericht gewähren. Heute hat der Nationalrat über eine Änderung der Zivilprozessordnung beraten und das Anliegen abgelehnt. Dank dieser Anpassung hätten die Kund:innen von Automobilkonzernen, Techgiganten, der Lebensmittelindustrie usw. endlich die Möglichkeit erhalten, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen. Leider schmetterte die grosse Kammer das Vorhaben ab. Nadine Masshardt, Präsidentin des Konsumentenschutzes, ist enttäuscht: „Die Verweigerungshaltung der Mehrheit im Nationalrat ist absolut unverständlich. Dass diese Rechtslücke nicht endlich geschlossen wird, ist eine ganz schlechte Nachricht für uns Konsumentinnen und Konsumenten.” In der Schweiz fehlt damit weiterhin ein absolut zentrales Recht. “In fast allen europäischen Ländern gibt es diese Möglichkeit bereits. Nur wir hier in der Schweiz können weiterhin keinen Schadenersatz geltend machen, wenn es wieder zu Fällen wie dem VW-Abgasskandal kommt”, ärgert sie sich.
Nun muss der Ständerat für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. Er wird als Zweitrat das Geschäft beraten.
Seit Jahren ist klar: Eine Gruppenklage muss möglich werden
Der Konsumentenschutz setzt sich seit vielen Jahren für ein gerechtes Rechtssystem ein. Konzerne und international tätige Grossunternehmen wehren sich jedoch mit allen Mitteln gegen die Einführung einer Gruppenklage. Es entsteht der Eindruck, dass sie sich weiterhin die Möglichkeit offenhalten wollen, sich gesetzeswidrig zu verhalten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Der Bundesrat hat bereits vor über zehn Jahren festgestellt, dass ein Rechtsinstrument wie die Gruppenklage in der Schweiz fehlt. Seitdem versuchen die Konzerne zu verhindern, dass diese eingeführt wird, indem sie vermeintliche Gefahren und angebliche negative Auswirkungen herbeireden.
Fakten sprechen für die Vorlage
Werden die Fakten betrachtet, zeigt sich, dass diese Befürchtungen aus der Luft gegriffen sind und nur vom eigentlichen Thema ablenken sollen:
- Die im Auftrag der Behörden getätigte Regulierungsfolgenabschätzung zeigt, dass die Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft minim sein dürften. Sie erwartet auch keinen Einfluss auf die Standortattraktivität oder das Preisniveau.
- Laut einer Umfrage, an der über 800 Unternehmen teilgenommen haben, erwarten die meisten Firmen keine negativen Folgen. Nur gewisse grössere Unternehmen befürchten rechtliche und wirtschaftliche Risiken.
- Gemäss einer Rechtsvergleichenden Studie gibt es in den europäischen Ländern grosse Unterschiede bei der Ausgestaltung des kollektiven Rechtsschutzes und dessen Auswirkungen. Die Schweiz hat die Möglichkeit, von diesen Erfahrungen anderer europäischer Länder zu profitieren und eine den Schweizer Gegebenheiten angepasste Gruppenklage einzuführen.
Nicht zuletzt sind auch die Vergleiche mit den Auswüchsen der amerikanischen «class action», die immer wieder ins Feld geführt werden, haltlos. Der vorliegende Gesetzesentwurf für eine Gruppenklage ist angemessen, massvoll und auf die Schweiz zugeschnitten. Umso enttäuschender ist die Haltung des Nationalrates. Der Ständerat muss die Rechte der Konsument:innen stärker in den Fokus setzen.